Der Schutz des Wiener Grüngürtels hat bereits eine lange Tradition. Mit einem Grünanteil von über 50 % nimmt die Stadt Wien eine Vorreiterrolle ein, was Stadtbegrünung betrifft. 2020 wurde vom Wiener Landtag die „Wald- und Wiesen-Charta“ beschlossen, um den Schutz und den Ausbau der Wiener Grünräume sicherzustellen und zu fördern. Doch was ist so wichtig an den Grünräumen in der Stadt und was genau ist die „Wald- und Wiesen-Charta“?
Wir haben uns mit Wolfgang Khutter, stv. Leiter der Stadt Wien – Umweltschutz und Koordinator für die Wiener Wald- und Wiesen-Charta, unterhalten, um diesen und weiteren Fragen auf den Grund zu gehen.
Interview
Sehr geehrter Herr Khutter, was ist die Wald und Wiesen-Charta, warum wird sie gebraucht?
Wolfgang Khutter: Der Schutz des Grüngürtels hat in Wien ja schon eine lange Tradition: Die ersten Teile des Wiener Grüngürtels wurden bereits im Jahr 1905 unter Schutz gestellt. Seither wurden diese Schutzgebiete stetig erweitert. Die im Juni 2020 vom Wiener Landtag beschlossene „Wiener Wald- und Wiesen-Charta“ schließt an diese visionären und bis heute erfolgreichen Ideen und Planungen an und ermöglicht zukunftsorientierte Entwicklungen.
Wie ist die Wiener Wald- und Wiesen-Charta entstanden? Gab es einen konkreten Anlass?
WK: Angesichts der sehr dynamischen Stadtentwicklung der letzten Jahre mit einem starken Bevölkerungswachstum war es uns wichtig, auch für die Zukunft festzuschreiben, was in Wien heute schon gilt: Dass trotz einer wachsenden Stadt der im internationalen Vergleich beachtliche Grünanteil von über 50 Prozent gehalten wird. Und mehr noch: Die Charta soll sicherstellen, dass die großen Grünräume nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ weiterentwickelt werden.
„Die Charta soll sicherstellen, dass die großen Grünräume nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ weiterentwickelt werden.“
Wolfgang Khutter, stv. Leiter der Stadt Wien – Umweltschutz und Koordinator für die Wiener Wald und Wiesen Charta
Wie kann das bei einer hohen Neubauleistung gelingen?
WK: Dieses Kunststück ist innerstädtisch zum Beispiel möglich, wenn die sogenannten Brownfields, also ehemalige Industrie- und Infrastruktur-Areale, entwickelt werden. Wenn etwa beim neuen Hauptbahnhof aber auch am ehemaligen Nord- und Nordwestbahnhof nicht nur Neubauten, sondern mit neuen Parks auch eine neue „grüne Mitte“ entsteht. Dann gibt es am Ende nachweislich mehr Grünraum für die neuen, aber auch für die alteingesessenen Bewohner im Umfeld.
Die Wiener Wald- und Wiesen-Charta hat allerdings vorrangig den Wiener Grüngürtel selbst mit seinen Wäldern, Wiesen und Gewässern im Fokus. Auch hier sind Steigerungen möglich, wenn es gelingt, diesen Grüngürtel zu schließen.
Welche Ziele sind in der Wald- und Wiesen-Charta konkret formuliert? Wie sollen sich die Wiener Grünräume geplanterweise entwickeln?
WK: Die Charta enthält 12 Leitsätze mit entsprechenden Erläuterungen und beispielhaften Schlüsselmaßnahmen für die großen grünen Landschaftsräume in und um Wien. Da geht es neben der genannten Absicherung des Grünraumanteils von über 50 Prozent, die Aufforstung von waldarmen Teilen Wiens – Stichwort: Norbert-Scheed-Wald -, die Fortsetzung des Schutzprogrammes „Netzwerk Natur“, die Quantitative und qualitative Sicherung und Entwicklung der Wiesenflächen oder die Renaturierung von Fließgewässern. Hochaktuell ist auch unsere Unterstützung für Baumverantwortliche zur Vermeidung nicht notwendiger Sicherungsschnitte aus Angst vor Haftungsfolgen.
Wie wird sichergestellt, dass es nicht nur bei einem Bekenntnis bleibt, sondern diese Maßnahmen tatsächlich umgesetzt werden?
WK: Gleichzeitig mit der Charta wurden vom Wiener Landtag auch drei Aktionspläne mit ganz konkreten Maßnahmen beschlossen: Der Aktionsplan Artenvielfalt, der Aktionsplan Wald und der Aktionsplan Gewässer. Einige der hier angeführten Maßnahmen werden bereits umgesetzt und andere neu begonnen: beispielsweise unser Interreg-Projekt „City Nature“ der Städte Wien und Bratislava für die Erhaltung und Pflege von Wiesen und Hilfe für Gebäudebrüter. Oder das Artenvielfalt-Projekt „Netzwerk Natur II“ und auch unsere Initiative zur Pestizidreduktion in Wien. Im Aktionsplan Wald wiederum geht es beispielsweise um kahlschlagfreie Baumentnahmen und einen möglichst schonenden Abtransport, etwa durch Pferde. Gleichzeitig werden auch Baumkronen oder Altholz als Lebensraum und Nahrungsstätte für seltene Arten im Wald belassen. Aber es geht auch um eine natürliche Verjüngung des Waldes, die Aufforstung mit heimischen, standortgerechten Baumarten, ein Verbot von Pestiziden und Mineraldüngern sowie ein modernes, zeitgemäßes Wildtiermanagement. Der Aktionsplan Gewässer wiederum sieht einerseits Renaturierungsmaßnahmen vor, aber beispielsweise auch die Errichtung von Kleingewässern als Lebensraum für Amphibien, Reptilien und andere Kleinlebewesen oder die Herstellung der Durchgängigkeit für Fische in Fließgewässern. Da all das natürlich in die Zuständigkeit mehrerer Dienststellen fällt – neben der Umweltschutzabteilung etwa auch das Forstamt, das Stadtgartenamt und die Wiener Gewässer – wurde ich vom Magistratsdirektor zum Koordinator der Umsetzung bestellt.
Grünräume werden in Wien auf verschiedenste Arten genutzt – ob fürs Spazieren, Wandern, Mountainbiken, Verweilen, Spielen, Gassi-Gehen, etc. Wie geht die Charta mit Nutzungskonflikten um bzw. wie lassen sich diese reduzieren?
WK: „Erholungsangebote und Freizeitnutzung“ ist einer der zwölf Leitsätze in der Charta. Hier ist das Ziel, zwischen attraktiven
Freizeitangeboten und Naturräumen, die weniger intensiv genutzt werden, zu differenzieren. Wichtig ist uns auch, dass das Aufsuchen dieser Orte möglichst umweltfreundlich erfolgt: Dass also vor allem jene Bereiche, die für das Naturerleben, die Erholung und sportliche Betätigungen zur Verfügung stehen, auch gut mit dem Umweltverbund – also zu Fuß, mit den Öffis oder dem Rad erreicht werden können.
„Wichtig ist uns auch, dass das Aufsuchen dieser Orte möglichst umweltfreundlich erfolgt: Dass also vor allem jene Bereiche, die für das Naturerleben, die Erholung und sportliche Betätigungen zur Verfügung stehen, auch gut mit dem Umweltverbund – also zu Fuß, mit den Öffis oder dem Rad erreicht werden können.„
Wolfgang Khutter
Welche Bedeutung haben der Klimawandel und seine Folgen in der Wiener Wald- und Wiesen-Charta?
WK: Eine sehr hohe! Der Wiener Grüngürtel ist sowohl für den Klimaschutz als auch für die Klimawandelanpassung immens wichtig. Die Grünräume – vor allem Wälder – binden einerseits CO2 und produzieren
Sauerstoff; nicht nur durch ihr eigenes Wachstum, sondern auch durch Humusbildung im Boden und die Verhinderung von Erosion. Gleichzeitig mindern sie die Klimawandel-Folgen, da sie Wasser speichern, Schatten spenden und generell kühlend wirken. Sie binden Regenwasser im Waldboden und verhindern bei Starkregenereignissen Bodenabtrag und Hangrutschungen. Aber auch die Wasserflächen und deren angrenzende Grünbereiche wirken kühlend auf die Stadt.
Was wünschen Sie sich für Wien, seine Menschen und seine Grünräume für das Jahr 2050?
WK: Dass unsere Kinder und Enkelkinder in einer mindestens so schönen Stadt wie wir heute leben können. Und dass sie sich in noch mehr qualitativ hochwertigen Grünräumen so richtig wohl fühlen und viele seltene Pflanzen- und Tierarten entdecken können.
Danke für das Gespräch!
Zur Person:
Ing. Wolfgang Khutter ist stv. Leiter der Stadt Wien – Umweltschutz und Bereichsleiter für Naturschutz. Er wurde vom Magistratsdirektor zum Koordinator der Umsetzung der Wiener Wald und Wiesen Charta bestellt.
Mehr Informationen zur Wald- und Wiesen-Charta, zum Wiener Grüngürtel und zur Klimawandelanpassung in Wien unter:
Wald- und Wiesen Charta: https://www.wien.gv.at/umweltschutz/naturschutz/wald-und-wiesen-charta.html
Wiener Grüngürtel: https://www.wien.gv.at/stadtentwicklung/projekte/landschaft-freiraum/landschaft/gruenraum/entwicklung/gruenguertel/index.html
Klimawandelanpassung in Wien: https://www.wien.gv.at/umwelt/klimaschutz/anpassung.html
Projekt City Nature: https://www.city-nature.eu/
Initiative Pestizidreduktion in Wien: https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20190824_OTS0003/weniger-pestizide-fuer-mehr-insekten
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