Wie abhängig ist Europa bei Arzneimitteln?
Spätestens seit Ausbruch der Corona-Pandemie ist die Abhängigkeit der Europäischen Union von asiatischen Arzneimitteln und Wirkstoffen ein Thema. Aber wie abhängig ist Europa nun wirklich und (wie) kann in Europa produziert werden? Diesen Fragen widmete sich der Nachhaltigkeitsstammtisch des Ökosozialen Forums Oberösterreich am vergangenen Montag. Informiert und mit etwa 50 Teilnehmern diskutiert wurde am Standort des Pharmaunternehmens „Richter Pharma AG“ in Wels.
„Apothekerpreise“ sind längst Vergangenheit
Eines wurde an dem Abend klar: Europa und Österreich sind bei Arzneimitteln bzw. vor allem bei Wirkstoffen abhängig von anderen Ländern – und zwar vor allem von Indien und China. Dorthin hat sich die Wirkstoffproduktion in den vergangenen zwei Jahrzehnten verlagert. Noch im Jahr 2000 kamen 60 Prozent der Wirkstoffe aus Europa und etwa ein Drittel aus Asien. Heute hat sich das ziemlich genau umgekehrt: Etwa 60 Prozent kommen aus Asien, ein Viertel aus Europa. Dazu kommt, dass sich in den asiatischen Ländern die Produktion konzentriert hat, was bedeutet, dass es bei vielen Wirkstoffen nur mehr ein oder zwei Herstellerunternehmen überhaupt gibt. Eine sehr fragile Versorgungskette ist die Folge. Trotzdem konnte bisher auch bei Lieferengpässen die Versorgung in Österreich weitgehend sichergestellt werden. Allerdings: Um mittel- und langfristig dem Problem Herr zu werden, wird kein Weg an höheren Arzneimittel-Preisen vorbeiführen, denn die sogenannten „Apothekerpreise“ seien längst Vergangenheit, sagte Roland Huemer, Vorstandsvorsitzender der Richter Pharma AG. Max Hiegelsberger, der als Obmann des Ökosozialen Forums OÖ zu diesem Stammtisch geladen hatte, ergänzte: „Auch in der Arzneimittelproduktion wird es letztlich darauf angekommen, wieviel Österreich und wieviel die Bevölkerung für eine lokale Produktion bereit ist zu zahlen.“ Als Ökosoziales Forum wolle man mit dem Nachhaltigkeitsstammtisch jedenfalls Bewusstsein schaffen.
Kurz- und mittelfristig: Anpassung der Preise und Spannen, Krisenlager, Bevorratung und mehr Aufklärung und Forschung
Huemer präsentierte in seinem Vortrag kurz- und mittelfristige Lösungsansätze, um die Versorgung sicherzustellen. Im Humanpharmahandel in Österreich bestehe die Herausforderung, dass gesetzlich festgelegte Preise und vor allem Spannen aus dem Jahr 2004 eine kalkulatorische Anpassung an wirtschaftliche Preise nicht ermöglichen. „Der pharmazeutische Großhandel in Österreich liefert heute 2/3 aller Arzneimittel-Packungen für weniger Geld als ein Brief kostet. Im Jahr 2004 kostete eine Briefmarke 55 Cent, heute 1 Euro. Und dieser muss weder temperaturgeführt gelagert noch transportiert werden.“, erklärte Roland Huemer die prekäre Situation in der sich der Humanpharmahandel heute befindet.
So sieht der Richter Pharma Chef Huemer faire Preise und Spannen als erste Maßnahme, um weiterhin Pharmaunternehmen dazu zu bringen Produkte in Österreich einzuführen und die Logistikkette bis zum Patienten weiterhin sicherzustellen. Zudem sieht er auch das vom Gesundheitsministerium bereits angedachte, aber noch nicht umgesetzte „Krisenlager“ und die Bevorratung von Wirkstoffen, damit die Apotheken eigene Rezepturen herstellen können, als möglichen Lösungsansatz. Neben dem existierenden Exportverbot für Produkte auf der Liste der Vertriebseinschränkungen wäre auch ein vereinfachter Marktzugang bei Lieferengpässen notwendig. Auch eine aktuellere Information für Ärzte, welche Medikamente verschrieben werden können und mehr Transparenz über den Verfügbarkeitsstatus würden helfen. Als Basis brauche es auch mehr Aufklärung für Patienten – etwa über den nicht immer notwendigen Antiobiotika-Einsatz, um auch die Anzahl an weggeschmissenen Medikamenten zu reduzieren. Nicht zuletzt benötige es auch forschungs- und industriefreundliche Rahmenbedingungen, um zukunftsorientierte Maßnahmen wie die „patientenindividuelle Verblisterung“, also genau auf die Bedürfnisse des Patienten abgestimmte in einem Beutel pro Einnahmezeitpunkt zusammengepackte Medikamente wirtschaftlich anbieten zu können.
Langfristig: Wirkstoffproduktion zurück nach Europa
Stefan Fischer, Gesundheitsexperte für Pharmaökonomie der Gesundheit Österreich GmbH, erläuterte in seinem online zugeschalteten Referat, die (frühere) bedeutende Rolle Europas in der Wirkstoffproduktion. Denn bis in die 1950er-Jahre war Europa global führend bei der Arzneimittelherstellung. In den 1960er-Jahren begannen die Schwellenländer Indien und China mit dem Aufbau pharmazeutischer Produktionskapazitäten, um den Eigenbedarf zu decken und – paradoxerweise – unabhängiger von anderen Ländern zu werden. Indische und chinesische Hersteller wurden in der Folge auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähiger und der zunehmende Preisdruck in den westlichen Ländern hatte zur Folge, dass die globale Arzneimittelproduktion immer mehr nach Asien verlagert wurde. Eine langfristige Lösung wäre also die Rückverlagerung der Produktion nach Europa und die Stärkung und Anreizschaffung lokaler Produktion. Schon bestehende Initiativen seien zum Beispiel die Expansion der lokalen Wirkstoffproduktion für Penicillin in Kundl in Tirol. Der Standort ist einer von fünf Produktionsstandorten für Penicillin weltweit, die anderen vier liegen in China. Der Staat Österreich finanziert dort 50 Millionen Euro. Weitere Beispiele gäbe es in Frankreich mit „EuroApi“ und „Seqens“. Es gibt also Möglichkeiten – wobei allerdings neben vieler anderer Herausforderungen – das Geld eine sehr wesentliche Rolle spielen wird. Denn die lokale Produktion ist wie bei so vielen anderen Branchen – teurer.