Die Budgets der europäischen Staaten sind unter Druck. Über die notwendigen Maßnahmen, um Europa und Österreich fit für die Zukunft zu machen sprach denk.stoff mit dem Chef der Euro-Gruppe Thomas Wieser.

In welchem Verhältnis stehen zukunftsbezogene und vergangenheitsbezogene Ausgaben in den europäischen Haushalten?

Thomas Wieser: Genaue Quantifizierungen sind nicht möglich, da es auch durchaus unterschiedliche Auffassungen gibt, welche Ausgaben in welche Kategorie einzureihen sind. Aber die Trends sind eindeutig: ein deutlicher Anstieg der vergangenheitsbezogenen Ausgaben und ein relatives Absinken der zukunftsbezogenen Ausgaben. Alle Projektionen zeigen beispielsweise ein weiteres Ansteigen etwa der altersbezogenen Ausgaben – nicht in allen, aber den meisten EU-Mitgliedstaaten.

Welche Staaten können Vorbilder sein?

Thomas Wieser: Schweden hat bereits in den 1990er Jahren eine umfassende Pensionsreform umgesetzt, die eine größere Wahlfreiheit über den Pensionsantritt ermöglicht; die Pensionshöhe ist dann eben auch davon abhängig. In den skandinavischen Ländern ist generell ein ganzheitlicheres Politikverständnis auch in diesen Fragen zu konstatieren: Die Verknüpfung von Arbeitsmarktpolitik, Pensionsfragen, Bildungspolitik und innerbetrieblichen Maßnahmen führt zu einem längeren Verweilen im Arbeitsmarkt, zu altersgerechten Arbeitsinhalten und -plätzen und zu einem stärkeren Verständnis, dass der einzelne Arbeitnehmer förderungswürdig ist, aber nicht ein bestimmter Arbeitsplatz. Mobilität wird gefördert, nicht gefürchtet. Es wird gleichzeitig gefördert und gefordert

In welcher Liga spielt Österreich? Und wie können wir besser werden? 

Thomas Wieser: Österreich hat eine gute Ausgangsposition bei vielen wirtschaftlichen und sozialen Eckdaten. Es sind aber erhebliche Maßnahmen nötig, um diese gute Position nicht aufs Spiel zu setzen. Dazu gehören Maßnahmen im Bereich des Pensionsantrittsalters, auch hinsichtlich des ungleichen Antrittsalters von Frauen. Dazu gehört eine andere Einstellung von Unternehmen zum Angebot altersgerechter Arbeitsplätze, ebenso wie ein Umdenken bei manchen, dass ein möglichst frühes Verlassen des Arbeitsmarktes eine Art Grundrecht sei.

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»Mittel- und langfristig unterminieren hohe Defizite oder Schuldenstände soziale Standards.«

Thomas Wieser ist Präsident der Euro Working Group und Vorsitzender des Economic and Financial Committee der EU.

Wir haben erhebliche Ineffizienzen in bürokratischen Abläufen, die problemlos hinterfragt und beseitigt werden könnten. Wir haben ebenso Doppelgleisigkeiten im Föderalismus, die kaum jemand ernsthaft reformieren will. Und unser Bildungssystem ist vom Kindergarten bis zur Universität auf die Bewahrung des Status quo ausgerichtet und von internationalen Best-Practice-Beispielen mittlerweile recht weit entfernt.

Dieser Befund ist ja nicht etwas Neues; die Tatsachen sind allseits bekannt, wenn auch nicht gerne gesehen. Es fehlt „lediglich“ an einem tatsächlichen Umsetzen im Rahmen eines Gesamtkonzeptes, wie man Österreich zukunftsfit machen könnte. Wenn man sich die Frage stellt, wo man Österreich im Jahre 2025 sehen will, dann ergeben sich die notwendigen Maßnahmen ja fast von alleine. So ein Gesamtkonzept könnte auch helfen, festgefahrene Positionen in Einzelfragen loszueisen.

Die neue Studie der Bertelsmann Stiftung „Social Justice in the EU“ kommt zu dem Schluss, dass die soziale Gerechtigkeit in Europa in den letzten Jahren abgenommen hat. Vor allem in den am stärksten durch die Krise betroffenen Ländern führte die rigide Austeritätspolitik zu einem sozialen Auseinanderklaffen. Gibt es einen Trade-off zwischen ausgeglichenen Budgets und sozialer Gerechtigkeit?

Thomas Wieser: Die Krise der letzten Jahre hat naturgemäß zu einer Verschlechterung der Lebenssituation vieler Menschen geführt. Die überproportionale Betroffenheit von Menschen im Niedriglohnbereich und im Niedrigqualifikationsbereich zeigt eben auch auf, wie existenziell eine Verbesserung von Bildung und Ausbildung wäre. Eine solide Fiskalpolitik kann durchaus hohe soziale Standards ermöglichen; umgekehrt sichern hohe Defizite oder Schuldenstände keineswegs hohe soziale Standards ab - im Gegenteil, mittel- und langfristig unterminieren sie diese.

Wenn Sie eine Prognose wagen: Wird sich Europa in den kommenden 10 Jahren generationen-gerechter oder weniger generationengerecht aufstellen als heute?

Thomas Wieser: Es gibt durchaus Anlass zur Hoffnung, dass in vielen Ländern eine bessere Balance zwischen Konsumausgaben heute und Investitionen für morgen gefunden werden kann. Das kann aber angesichts der herrschenden Ungleichgewichte nur als bewusster politischer Akt erfolgen, durch die Hintertür wird dies kaum gehen. Insofern ist die Politik gefordert – und muss den Bedarf nach Änderung aktiv kommunizieren und eben auch vermitteln, dass wir von Chancen, nicht jedoch von Gefahren reden. Das könnte auch die zunehmende Distanzierung weiter Kreise der europäischen Bürger von „ihrer“ Politik überwinden helfen.