Josef Riegler bei seiner Rede anlässlich seines 85. Geburtstages

Riegler: “Wir müssen den Kurs korrigieren”

Gesellschaftspolitik

Ehrenpräsident Josef Riegler sprach im Interview mit dem Kärntner Bauer über die EU-Wahlen, Gegensätze zwischen Wirtschafts- und Naturschutzinteressen und mehr.

Herr Dr. Riegler, angesichts des Interviewtermins kurz nach der EU-Wahl: Wie beurteilen Sie das Ergebnis in Österreich und europaweit?

Dr. Josef Riegler: Bezogen auf Österreich sehe ich das Wahlergebnis als Chance zum Nachdenken darüber, was im Herbst kommt. Es gilt für die Politik noch stärker auf die Menschen zuzugehen, fair zu informieren und auf die Folgewirkungen einer Wahlentscheidung aufmerksam zu machen. 
In Europa haben wir insgesamt ein hohes Maß an Unzufriedenheit – ob begründet oder nicht – und die regierenden Parteien sind die Adressaten dieser Unzufriedenheit. Die Herausforderung wird künftig darin bestehen, den Menschen den Schatz, den wir mit dem europäischen Einigungswerk haben, noch stärker bewusst zu machen. 

Viele scheinen diesen „Schatz“ aber nicht mehr als solchen zu sehen.

Eine Lebenssituation wie die der Menschen in der EU gibt es nirgendwo sonst auf dem Globus. Es gibt dafür einen simplen Indikator: Niemand hat von Migrationsströmen nach China oder Russland gehört. Abgesehen von Südamerika, wo die Menschen in die USA streben, wollen alle nach Europa, weil es hier ein hohes Maß an Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Sicherheit, eine starke Wirtschaft sowie einen sehr hohen Lebensstandard gibt. Und obendrein eine intakte Umwelt.

Sie haben die Parameter Wirtschaft, Soziales und ­Umwelt angesprochen. ­Diese bilden auch die Eckpfeiler des Konzepts der Ökosozialen Marktwirtschaft, welches Sie in den späten 1980er-Jahren federführend entwickelt ­haben. Heute aktueller den je?

In Wahrheit ist der Dreiklang aus Wirtschaft, Sozialem und Umwelt das Lebenskonzept schlechthin. Wenn ich zukunftsorientierte Politik machen möchte, muss ich versuchen, eine Balance zwischen diesen Bereichen herzustellen – damals wie heute. Ich brauche eine leistungsfähige Wirtschaft, die auf Innovation, Eigeninitiative und Eigentum beruht, denn nur so kann eine Grundlage geschaffen werden, auf der ein hohes Maß an sozialem Wohlstand möglich ist. Wirtschaft ist aber kein Selbstzweck, sondern dient den Menschen. Also die Umkehr eines bekannten Slogans hin zu „Geht’s den Menschen gut, geht’s der Wirtschaft gut.“

Fehlt in der Aufzählung noch die Umweltkomponente …

Wir mussten in den letzten Jahrzehnten erfahren, dass unser Lebensraum bedroht ist. Das Artensterben, die Zerstörung von Lebensräumen und jetzt immer dramatischer auch die drohende Klimakatastrophe setzen uns zu. Wir stehen vor der riesigen Herausforderung, eine gewaltige Kurskorrektur vornehmen zu müssen. Hier unterscheidet sich der ökosoziale Ansatz aber von fundamentalistischen Ansätzen gewisser – auch politischer – Gruppierungen: Ich kann die Wende nur schaffen, wenn ich diese für die Menschen wirtschaftlich attraktiv mache. In der Ökosozialen Marktwirtschaft sind die Instrumente dazu die Grundprinzipien der ökologischen Kostenwahrheit, ein striktes Verursacherprinzip und ein intelligenter Umbau von Steuern, Abgaben und Förderungen zugunsten der Nachhaltigkeit. 

Wie gut ist Österreich diesbezüglich unterwegs?

Mit der ökosozialen Steuerreform in der laufenden Periode wurde der Umbau ansatzweise geschafft, in diese Richtung muss es gehen – auch in der Europäischen Union. Dabei ist die EU weltweit sicherlich am weitesten – Beispiel Emissionshandelssystem. Wer viel emittiert, soll viel dafür zahlen. Die EU möchte das auch auf Mobilität und Wärmeversorgung ausweiten. Wir haben hier nur das Problem, dass bürokratische Überspitzungen passieren oder in Diskussion sind. Das regt viele Menschen – zum Teil auch zu Recht – auf und wird sich praktikabel einpendeln müssen. Man kann nicht jedem Kleinstbetrieb bis ins Detail anschaffen, was er dokumentieren muss. 

Was den Klimawandel betrifft, sind sich die meisten Experten einig, dass dagegen weltweit zu wenige Maßnahmen und noch dazu in zu geringem Tempo umgesetzt werden. Sehen Sie das auch so?

Es herrscht Einvernehmen darüber, dass es mit der Reduktion der CO2-Emissionen in Richtung Null nicht getan sein wird. Wir müssen auch CO2 aus der Atmosphäre ‚zurückholen’. Eine sehr wichtige Komponente dafür ist die grüne Pflanze, die als einzige CO2 aus der Atmosphäre in Sauerstoff verwandelt. Hier kommt die Landwirtschaft ganz stark als Klimaretter ins Spiel – wenn sie so praktiziert wird wie bei uns, mit vitaler Forstwirtschaft, Fruchtwechsel und Humusaufbau und nicht so, dass Regenwälder niedergebrannt werden. 

Im immer enger werdenden globalen Wettbewerb kommt einer leistungsfähigen Wirtschaft besondere Bedeutung zu. Unter diesem Aspekt müsste man wohl Kompromisse zugunsten der Wirtschaft eingehen. Andererseits droht die Klimakatastrophe. Wie schafft man diesen Spagat?

EU-weit ist es ein Problem geworden, dass wir der Wirtschaft zu starke Fesseln auferlegen und sie dadurch im globalen Wettbewerb zu stark gehemmt wird. Ich verstehe auch diesbezügliche Stimmen aus der heimischen Wirtschaft. Gemäß dem Prinzip der ökosozialen Marktwirtschaft muss man aber immer bereit sein, auch das Gegenüber zu sehen und darauf einzugehen. Das ist der Unterschied zu reinem Kapitalismus, aber auch reinem Grün-Dirigismus. Da sind sicher Fehler passiert, auch durch einzelne Regierungsmitglieder, wo man – vielleicht auch gut meinend – glaubte, einfach etwas anschaffen zu können. Politik geht nicht anders, als dass man Kompromisse sucht. Ich bin überzeugt, dass diesbezüglich sowohl die nächste Bundesregierung als auch die nächste EU-Kommission aus den aktuellen Entwicklungen lernen werden. 

Eine Verwirklichung Ihrer ökosozialen Vision kann ohne Zutun der einzelnen Bürgerinnen und Bürger nicht gelingen. Wo sehen sie deren Rolle?

Was die persönliche Verantwortung betrifft, stellt sich die Frage, wie man sich als Konsument verhält. Jeder hat es jeden Tag in der Hand, ob er Nachhaltigkeit und ökologische Verantwortung praktiziert. Kaufe ich regional ein, achte ich auf Tierwohl, Natur- und Landschaftsschutz, oder kaufe ich irgendwas von irgendwo? Wie organisiere ich meine Energieversorgung und meine Mobilität? Das sind alles gewaltige Stellschrauben, die jeder Einzelne in der Hand hat.

Kommen wir am Ende des Interviews noch einmal zurück zur EU-Wahl. Wenn Sie für die kommende Legislaturperiode der EU einen Wunsch frei hätten, wie würde dieser lauten?

Ich wünsche mir viel mehr gelebte Subsidiarität. Das heißt, einerseits zu stärken, was wir gemeinsam tun müssen – gemeinsame Außenpolitik, Schutz der Grenzen und innere Sicherheit. Andererseits aber viel weniger Dirigismus im Kleinen. Gemeinsame Vorgaben – ja, aber Umsetzung in den einzelnen Mitgliedsstaaten unter Berücksichtigung der unterschiedlichen nationalen und regionalen Gegebenheiten. Die EU braucht nicht vorzugeben, wie auf einer Almhütte Käse produziert wird. Die tägliche Gestaltung muss so nahe wie möglich bei den Menschen passieren. 

Danke für das Gespräch!

Das Interview führte Wilfried Pesentheiner. Erschienen ist es am 19.06.2024 im Kärntner Bauer.