Noch nie gab es so viele Beschäftigte in Österreich und noch nie gab es so viele als offen gemeldete Stellen. Die demographische Entwicklung, die Anpassungsstrategien an den Klimawandel und die Digitalisierung werden den Arbeitsmarkt verändern. Wie aber werden wir künftig arbeiten, welche Kompetenzen sind gefragt und welche Weichenstellungen sind heute nötig? Darüber diskutierten AMS-Chef Johannes Kopf, die WIFO-Ökonomin Christine Mayrhuber, die Leiterin der Abteilung Arbeitsmarkt und Integration in der Arbeiterkammer Wien, Silvia Hofbauer, die stv. Leiterin der Abteilung für Sozial- und Gesundheitspolitik in der WKO, Julia Moreno-Hasenöhrl, und zukunft.lehre.österreich-Geschäftsführerin Monika Sandberger.
Johannes Kopf: Im März 2020 ist die Arbeitslosenzahl in 14 Tagen um 200.000 Menschen gestiegen. Im Folgemonat sind weitere 210.000 Menschen dazugekommen. Und 2021 hat uns dann alle überrascht, wie stark und wie rasch die Arbeitslosigkeit wieder gesunken ist. Durch den unglaublichen Wirtschaftsboom erreichte die Arbeitslosigkeit bereits im Oktober 2021 wieder das Vor-Corona-Niveau. Aktuell haben wir rund vier Millionen Beschäftigte in Österreich und die niedrigste Arbeitslosenquote seit 15 Jahren. In zwei Bundesländern sind allein beim AMS mehr offene Stellen als Arbeitslose gemeldet.
Welche Unternehmen haben aktuell die größten Probleme, Arbeitskräfte zu finden?
Julia Moreno-Hasenöhrl: Es ist nicht mehr nur ein Fachkräftemangel, sondern ein Arbeitskräftemangel generell. Ein Blick auf die Demographie zeigt, das wird sich weiter verschärfen. Die österreichische Gesellschaft wächst zahlenmäßig und wir werden älter. Aber die Erwerbspersonen (und v. a. die Vollzeiterwerbspersonen) nehmen ab. Hingegen werden die Personen über 65 Jahren zunehmen. Bis 2040 wird diese Altersgruppe um 830.000 Personen wachsen. Das bedeutet: mehr Konsum, mehr Dienstleistungs-, mehr Pflegebedarf. Dies alles müssen wir anbieten können.
Vereinbarkeit noch immer nicht gelöst
Moreno-Hasenöhrl: Wir müssen daher an mehreren Stellschrauben gleichzeitig drehen: Im Inland bedeutet dies Aus- und Weiterbildung, vor allem in Richtung Green Jobs. Das Thema Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist immer noch nicht gelöst. Und wir werden, wenn wir älter werden, auch länger arbeiten müssen, um das Sozialsystem zu finanzieren. In Bereichen, in denen der Bedarf da ist, werden wir auch qualifizierte Zuwanderung brauchen.
Welche Gruppe wäre für den Arbeitsmarkt am leichtesten zu aktivieren?
Christine Mayrhuber: Ganz klar, die Frauen. Dazu müsste man das Kinderbetreuungsproblem und das das Mobilitätsproblem lösen. Die Erwerbsbeteiligung von Frauen hat sich in den vergangenen Jahren erhöht, aber ein Großteil davon in Teilzeit. Es gibt auch die so genannte stille Reserve: Frauen, die sich zurückgezogen haben, weil die genannten Probleme nicht gelöst wurden und sie entmutigt sind, weil dadurch die Arbeitssuche bisher sehr schwierig war.
Welche Anreize braucht es für die Menschen, in den Bereichen zu arbeiten, wo der Bedarf besonders groß ist?
Silvia Hofbauer: Es müssen vor allem die Arbeitsbedingungen passen. Das betrifft die Arbeitszeit und natürlich auch den Lohn. Die Lohnentwicklung hat in den vergangenen Jahren nicht mit dem Arbeitskräftebedarf mitgehalten. Angesichts des Arbeitskräftemangels müssten in der marktwirtschaftlichen Logik die Löhne und Gehälter explodieren. Im Tourismus und in der Dienstleistung steigt das Lohnniveau abgesehen von den Kollektivvertragsabschlüssen aber nicht merklich. Die Betriebe müssen darüber hinaus erreichbar sein. Hier muss der öffentliche Verkehr ausgebaut werden. Mobilität ist nicht nur eine Angelegenheit der Arbeitnehmer. Unternehmen ab 50 Mitarbeitern müssten hier an einem Mobilitätskonzept arbeiten, damit die Erreichbarkeit auch ohne eigenes Auto möglich ist. Am Land gibt es Familien mit nur einem Auto und dann ist es völlig klar, wer das Auto zum Arbeiten nimmt und das sind selten die Frauen.
Monika Sandberger: Die Zahl der Jugendlichen wird 2030 wieder so hoch sein wie 2010. Das ist ein Lichtblick. Diese Jugendlichen und ihre Eltern müssen wir von den Möglichkeiten überzeugen, die eine Lehre bietet. Es gibt mehr als 200 Lehrberufe, die eine wunderbare Chance darstellen, ins Berufsleben zu starten. Der Lehrberuf ist keine Bildungssackgasse, sondern eine außergewöhnliche Möglichkeit, in ein Berufsfeld einzutauchen und die Vielfalt des Arbeitslebens kennenzulernen. Darüber hinaus gibt es bundesweit die Duale Akademie, hier haben Jugendliche mit abgeschlossener AHS-Matura die Möglichkeit, eine Lehre mit verkürzter Laufzeit zu beginnen.
Weiterqualifizierung nicht für alle leistbar
Wie beurteilen Sie die Möglichkeit, einen Lehrabschluss auch noch später im Rahmen einer Umschulung zu machen?
Hofbauer: Ein Großteil der Arbeitslosen hat als höchste Ausbildung einen Pflichtschulabschluss. Es gibt zwar die Möglichkeit der verkürzten Lehrausbildung. Aber die meisten leben von dem Arbeitslosengeld oder der Notstandshilfe. Und 55 Prozent vom Letzteinkommen ist kurzfristig vielleicht möglich. Wenn ich aber weiß, dass ich in den eineinhalb Jahren der Ausbildung sicher nicht mehr bekomme, ist das ein Hindernis. Viele Menschen können es sich nicht leisten, eine so lange Zeit eine Ausbildung zu machen.
Kopf: Die Fähigkeit und Bereitschaft zur Weiterbildung hängt in hohem Maße von der Erstausbildung ab. Daher finde ich das Konzept Lehre nach Matura so spannend. Das Schulsystem hat sich in den vergangenen 100 Jahren erstaunlich wenig verändert. Aber wir sind als Gesellschaft trotzdem nicht gegen die Wand gefahren, weil die Menschen das Lernen lernen. Darum hat auch jemand, der Altgriechisch studiert hat, gute Jobchancen., weil er lernen gelernt hat und lernen mag. Darum ist eine hohe Allgemeinbildung so wichtig.
Mayrhuber: Aktuell haben wir in Österreich bei den 16- bis 24-Jährigen acht Prozent, die sich weder in Ausbildung noch Beschäftigung befinden. Ohne ordentlichen Abschluss werden diese Menschen auch mit 40 oder 45 Jahren die Bildungsangebote nicht wahrnehmen können. In unserem Bildungssystem geht es darum, den Anforderungen zu entsprechen und gute Noten zu haben. Wir lernen nicht, wie wir uns die Dinge, die wir nicht wissen, aneignen können.
V. r. n. l.: Johannes Kopf, Silvia Hofbauer, Monika Sandberger, Julia Moreno-Hasenöhrl, Christine Mayrhuber und Hans Mayrhofer (Generalsekretär des Ökosozialen Forums)