Heute sind die meisten Nachhaltigkeitsauszeichnungen in privater Hand. Die Nachhaltigkeitsmanagerin Tanja Dietrich-Hübner erklärt die Vor- und Nachteile der Differenzierung bei der Nachhaltigkeitskennzeichnung und mit welchen Innovationen sie im Nachhaltigkeitsbereich künftig rechnet.
Was bringen Nachhaltigkeitsprogramme und -zertifizierungen für den Lebensmitteleinzelhandel?
Tanja Dietrich-Hübner: Ein Nachhaltigkeitslabel bringt zum Ausdruck, dass bei der Herstellung oder beim Handel eines Produkts soziale oder ökologische Kriterien besonders berücksichtigt wurden. Meistens sind diese mit Zertifizierungen oder anerkannten Standards hinterlegt. Ein Kunde – sei es ein B2B-Kunde oder Konsumentinnen und Konsumenten – kann sich nicht selbst von der Einhaltung sozialer oder ökologischer Standards überzeugen. Man kann sie weder sehen noch riechen oder schmecken. Deswegen braucht es eine Kennzeichnung. Diese gibt Auskunft über etwas, das man nicht sieht: ob es sich um ein Tier handelt, das draußen frei herumgelaufen ist, ob bei der Herstellung weniger CO2 ausgestoßen wurde oder ob die Arbeitsbedingungen auf dem Betrieb, der sich vielleicht nicht in Europa befindet, einem menschenwürdigen Arbeiten entsprechen. Deshalb sind diese Programme und Labels sehr wichtig. Labels sind nicht nur irgendein Marketingschmäh – bzw. sollten sie das nicht sein – hinter ihnen stehen in vielen Fällen Zertifizierungen und systematische Kontrollen.
Nachhaltigkeitsinnovationen gehen nur gemeinschaftlich
Warum bringen Sie eigene Nachhaltigkeits-Handelsmarken auf den Markt? Reichen die Branchenstandards nicht aus?
Tanja Dietrich-Hübner: Wenn ein Unternehmen ein Bedürfnis erkennt oder einen Hot-Spot identifiziert, kann es mit dieser Innovation auch Vorreiter sein. Dies war beispielsweise bei der Tötung der männlichen Küken in der Legehennenhaltung der Fall. Der Handel hat das erkannt und in Einzelinitiative umgesetzt und schließlich hat die Branche nachgezogen und die Aufzucht männlicher Küken zum Branchenstandard gemacht, indem das auch in die Bio-Verordnung aufgenommen wurde.
Wie identifizieren Sie solche Hot-Spots?
Tanja Dietrich-Hübner: Nachhaltigkeitsinnovationen können von allen Beteiligten in der Handelskette kommen. Wir sind in Kontakt mit unseren Kunden und treten mit ihnen Dialog – durch Umfragen, Kundenbeiräte oder auch in unseren Geschäften. Manchmal kommen Innovationen auch über unsere Partner in der Landwirtschaft oder von den Lieferanten. Wenn jemand etwas ausprobieren möchte oder wenn wir davon überzeugt sind, dass man in einem Bereich ökologisch nachhaltiger handeln könnte.
Solche Umstellungen sind mit einem unternehmerischen Risiko verbunden. Warum machen Sie es trotzdem?
Tanja Dietrich-Hübner: Jeder, der unternehmerisch handelt, trägt ein unternehmerisches Risiko – egal ob groß oder klein, egal ob Start-up oder etabliertes Unternehmen. Wenn du keine Innovationen umsetzt und nicht kreativ bist, bleibst du stehen und das ist nicht hilfreich. Alle Beteiligten in der Wertschöpfungskette tragen Risiko. Daher muss mit Maß und Ziel agiert werden, das ganze Unternehmen und die Partner müssen mitmachen und die Kunden muss man auch mitnehmen. Nachhaltigkeitsinnovationen gehen nur gemeinschaftlich.
Wer in der Lebensmittel-Kette trägt das größte Risiko? Wer hat den größten Nutzen?
Tanja Dietrich-Hübner: Am Ende des Tages muss jeder profitieren. Der Kunde und die Kundin kann sich darauf verlassen, ein besseres Produkt zu bekommen. Die Basis ist, dass er oder sie dem Händler oder der Marke vertraut. Der Händler hat viel zu verlieren, wenn die Kunden meinen, es mache keinen Unterschied, was sie kaufen. Wir bieten den Konsumentinnen etwas Besonderes an und wollen, dass sie wiederkommen – Kundenbindung ist essenziell. Auch die Landwirtschaft profitiert, weil sie etwas Besonderes herstellt.
Die Frage ist natürlich, wer am meisten investieren muss. Ich bin sehr froh, dass wir in Österreich und in Europa auch Förderungen dafür haben. Diese müssen noch viel stärker an Nachhaltigkeitskriterien gebunden werden. Damit alle Akteure, die verantwortungsvoll handeln und etwas entwickeln wollen, das auch können. Diese finanziellen Unterstützungen brauchen wir vor allem in der Landwirtschaft und der Produktion. Ein gewisses unternehmerisches Risiko muss trotzdem jeder bringen, aber jeder, der Freude am Erfinden hat und dafür auch etwas investieren will, soll die Möglichkeit dazu haben. Bei unserem Tierwohlprogramm für Mastgeflügel haben wir Investitionsunterstützung beispielsweise für den Einbau von Fenstern gewährt. Wir haben als Händler die Kosten abgedeckt, die durch diese Änderungen in der Haltung entstanden sind. Das ist vor allem am Anfang ein wichtiger Faktor.
Chance und Risiko gleichzeitig
Besteht durch die vielen verschiedenen Programme nicht die Gefahr, dass die unternehmerische Freiheit der Betriebe eingeschränkt wird? Stehen die Akteure in der Kette nicht unter Zugzwang, sich auf Geschäftsbeziehungen dauerhaft festlegen zu müssen, wenn jeder Händler schon ein eigenes Programm fährt, das ganz spezifische Kriterien festlegt?
Tanja Dietrich-Hübner: Natürlich ergeben sich daraus Chance und Risiko gleichzeitig. Bei Innovationen, die gemeinsam entwickelt werden, muss es eine gewisse Verlässlichkeit von allen Seiten geben. Wir als Händler wollen natürlich besondere Programme haben. Aber wir verstehen auch, dass es eine Herausforderung ist, wenn man als Produzent für jeden Abnehmer ein eigenes Programm braucht.
Welchen Labels vertrauen Ihre KundInnen?
Tanja Dietrich-Hübner: Es ist bekannt, dass das AMA-Gütesiegel ein sehr starkes Label ist und eine hohe Glaubwürdigkeit besitzt. Die Menschen bringen dem AMA-Gütesiegel hohes Vertrauen entgegen. Auch die Fair-Trade-Auszeichnung oder die Kennzeichnung Gentechnik-frei hergestellt stehen hoch im Vertrauensranking. Alle diese erfolgreichen Kennzeichnungen sind über einen längeren Zeitraum weiterentwickelt worden. Bei Fair Trade stecken 20 bis 25 Jahre Arbeit dahinter. Manchmal sind wir zu ungeduldig und wollen für unsere Anstrengungen im Nachhaltigkeitsbereich einen schnellen Return on Investment. Das sieht man aber nicht gleich in den Umsatzzahlen. Wir müssen die Konsumenten erst auf die Reise mitnehmen. Wir brauchen Vertrauen, dass die Themen langfristig funktionieren. Am Anfang hat man uns bei Ja natürlich gesagt, das kann nichts werden.
Warum?
Tanja Dietrich-Hübner: Die Ansicht war, bio ist eine zu kleine Nische. Bio hatte ein „alternatives Öko-Image“ wo z. B. das Aussehen weniger wichtig war und ein Apfel auch mal etwas verschrumpelt sein konnte. Man meinte, dass der Großteil der Kunden nicht interessiert sein würde. Aber die Produkte haben sich verbessert, die Auswahl ist größer und die Kommunikation ist stärker geworden. Heute ist man in Österreich sehr stolz auf den hohen Bioanteil bei den Produkten und den Betrieben.
Welche und wie viele Labels auf der Verpackung sind den Kunden zuzumuten?
Tanja Dietrich-Hübner: Das ist letztlich eine psychologische Frage. Verschiedene Auszeichnungen und Informationen müssen verpflichtend auf der Verpackung angebracht sein: z. B. die Mindesthaltbarkeit, das Gewicht, der Nährwert. Das ist gesetzlich vorgeschrieben. Dann findet sich noch beispielsweise das Logo Gentechnik-frei herstellt, das AMA-Gütesiegel und das Bio-Logo – dann wird es schon eng auf der Packung, v. a. bei Frischeprodukten oder jenen, die sehr kompakt verpackt sind. Die neuen digitalen Technologien werden helfen, dass man leicht zu den individuell interessanten Informationen kommt. Der Bedarf an Informationen ist da, aber wenn du am Abend schnell ins Geschäft gehst, willst du nicht immer eine „Entdeckungsreise in Sachen Nachhaltigkeit“ machen. Da sind Logos eine Vereinfachung. Wenn es zu viel wird, brauchen wir für den Kunden eine andere Unterstützung, dass er weiß: Das ist mein Produkt.
Als Experten sehen wir immer die ganze Fülle an Food-Labels. In den einzelnen Warengruppen gibt es aber gar nicht so viele. Ein Kunde, der Fisch kauft, hat dann die Fischlabels vor sich, aber eben kein Fair-Trade-Logo, das gibt es bei Fisch nicht. Mit der Zeit kennt ein Kunde die Labels, die ihn interessieren. Kommt dann ein neues hinzu, muss das entsprechend kommuniziert werden und der Kunde entscheidet dann, ob ihn das auch interessiert oder nicht. Nicht jedes Label ist für jeden Kunden von Interesse, hier muss man zielgruppenspezifisch denken. Der eine schaut mehr auf Tierwohl, der andere auf den CO2-Footprint.
Wie hoch schätzen Sie das Potenzial, das die Menschen, weitere Informationen über Apps abholen?
Tanja Dietrich-Hübner: Wie bei jeder neuen Technologie kann man das vorab nicht sagen. Allein die Möglichkeit, die Informationen abzufragen, schafft aber schon Vertrauen. Auch wenn das noch nicht breit genutzt wird. Die Technologie dafür ist vorhanden. Schwieriger sind hier wahrscheinlich die Datenimplementierung und der Datenschutz.
Mit welchen Innovationen rechnen Sie in der nahen Zukunft im Nachhaltigkeitsbereich?
Tanja Dietrich-Hübner:Klimaschutz bewegt die Menschen aktuell sehr stark. CO2-Labelling – wie immer das umgesetzt wird – ist dabei ein wichtiges Thema. Ebenso das Bedürfnis nach Natürlichkeit und Herkunftssicherung bei Lebensmitteln. Beim Thema Verpackung sehe ich noch den Bedarf für Kennzeichnung. Derzeit ist bei Plastik-Verpackung noch nicht nachvollziehbar, ob ein Kunststoff aus neuen Rohstoffen hergestellt oder recycelt wurde. Beim Thema Mikroplastik hat man sich in der Branche gemeinsam mit der Arbeiterkammer auf eine Definition geeinigt, was mikroplastikfrei heißt. Das mit einem Label zu kennzeichnen ist sinnvoll.
Tanja Dietrich-Hübner leitet die Stabsstelle Nachhaltigkeit bei der REWE International. Die Juristin ist Vorstandsvorsitzende von Blühendes Österreich und Vorstandsmitglied der ARGE Gentechnik-frei.