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Der Ländliche Raum kann mehr…

Regionale Entwicklung

Europa steht aktuell vor tiefgreifenden strukturellen Herausforderungen, für die es mutige Weichenstellungen und eine umfassende Strategie braucht. Wie dieser Wandel moderiert werden kann und wie die ländlichen Regionen Europas den Mitgliedstaaten und der EU helfen können, gestärkt und widerstandsfähiger aus der aktuellen Krise hervorzugehen, war Thema bei der Veranstaltung „Der Ländliche Raum kann mehr… Beitrag zu nachhaltigen Lösungen“ am 14. Juni 2022 im Haus der Europäischen Union in Wien, die das Ökosoziale Forum Österreich & Europa in Kooperation mit dem Ökosozialen Forum Polen und der Vertretung des Europäischen Parlaments in Österreich ausgerichtet hat.

Martin Fritsch, Subject Matter Expert bei dss+ in Zürich, plädierte in seinem Vortrag für eine integrierte Sicht auf Resilienz. Dafür unterschied er vier verschiedene Dimensionen der Resilienz für ländliche Gesellschaften und Ökonomien:

  • Gemeinschaft bzw. soziale Resilienz
  • Resilienz in Bezug auf das Management natürlicher Ressourcen
  • ökonomische Resilienz
  • finanzielle Resilienz

Fritsch fragte auch danach, wie Europas ländliche Regionen kooperieren können, um die strategische Autonomie zu stärken. Dazu seien – so seine drei Thesen – einerseits ein Diskurs nötig, um ein gemeinsames Verständnis über die Bedarfe zu erreichen, die diese vier Bereiche der Resilienz erfordern. Weiters ist dieser Prozess in einen ständigen Erfahrungs- und Wissensaustausch einzubetten, indem die europäischen ländlichen Räume zu einem lernenden Netzwerk werden. Und drittens sind Governance-Strukturen anzupassen, um die horizontale und vertikale Zusammenarbeit zu stärken und die Verantwortung von Anpassungsmaßnahmen gemeinschaftlich wahrnehmen zu können. Frisch strich heraus, dass es nicht einzig um die Ausweitung von Förderungen gehen darf, sondern um einen ressourceneffizienten Ansatz, bei dem auch marktwirtschaftliche Prinzipien zugrunde gelegt werden sollten.

Andrzej Wałęga, Vorstand des Departments für Siedlungswasserwirtschaft der Agraruniversität Krakau, widmete sich in seinem Vortrag den Auswirkungen des Klimawandels auf die ländlichen Räume in Europa. Er belegte anhand von Niederschlagsdaten die Veränderungen, mit denen die ländlichen Räume konfrontiert sind und noch sein werden. Der Klimawandel ist – so der Hydrologe – eine Tatsache. Er warnte jedoch vor vorschnellen und eindimensionalen Schlussfolgerungen über die damit zusammenhängenden Veränderungen. Der Klimawandel ist nicht der einzige und manchmal auch nicht der dominierende Faktor, der die Veränderung der Wasserressourcen bestimmt. Es braucht daher einen Zugang, der alle Faktoren berücksichtigt, weil die Wasserrückhaltung und ein vernünftiges Raummanagement künftig eine immer wichtigere Rolle beim Umgang mit den Auswirkungen des Klimawandels in ländlichen Gebieten spielen werden.

In der Diskussion stand dann die Frage „Wie können die ländlichen Regionen Europas den Mitgliedstaaten und der EU helfen, gestärkt und widerstandsfähiger aus der aktuellen Krise hervorzugehen?“ zur Debatte.

Dacian Cioloș, Mitglied im Ausschuss für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung im Europäischen Parlament, beschäftigt sich in seinen Ausführungen mit der Funktion der Nahrungsmittelproduktion. Er stellte klar, dass es nicht einzig um Fragen der Quantität und der Qualität der Lebensmittel gehe, sondern immer mehr auch um Fragen der Leistbarkeit der produzierten Produkte. Das ist aktuell für viele Menschen ein Problem und darf in der Debatte nicht aus den Augenverloren werden. Des Weiteren ging er auf die Zielkonflikte im Green Deal ein, die die Resilienz Europas gefährden könnten.

Lukas Mandl, Stellvertretender Vorsitzender im Unterausschuss für Sicherheit und Verteidigung im Europäischen Parlament, sprach die zunehmend unterschiedlichen Werte zwischen städtischen und ländlichen Regionen an. Dieser hat sich nicht zuletzt auch in den Covid-Impfstatistiken niedergeschlagen. Hier wäre es wichtige, dass sich die Diskurse nicht verselbständigen, sondern gemeinsam in Stadt und Land geführt werden.

Andreas Jirkowsky, Leiter der Abteilung Warenhandel bei der Raiffeisen Ware Austria strich vor allem die Aufgabe heraus, dass in den ländlichen Regionen – vor allem in den osteuropäischen Ländern – die Infrastruktur ausgebaut werden müsse, um die Chancen der ländlichen Räume optimal nutzen zu können. Dafür und auch um das ganze europäische Friedensprojekt abzusichern, brauche es mehr europäischer Solidarität. Eine Beschränkung von agrarischen Exporten wie sie beispielsweise durch Ungarn verhängt wurde, ist das, was ein gemeinsames Europa nun am allerwenigsten brauche.

Marianne Penker, Professorin für Ländliche Soziologie und Ländliche Entwicklung an der Universität für Bodenkultur stellte fest, dass Diversität ein wichtiger Faktor der Resilienz ist. Studien belegen, dass diverse Gesellschaften resilienter seien als weniger diverse. In den ländlichen Räumen in Europa zeigt sich vor allem ein Mangel an Gender-Diversität. Besonders für Frauen sollten die ländlichen Regionen attraktiver werden, um Abwanderung zu verhindern. Auch brauche es einen neuen Narrativ, um den Grundkonsens der Gesellschaft wieder zu fördern.

Als Reaktion auf den angesprochenen Populismus und die Vorbedingungen eines demokratischen Diskurses sprachen sich alle DiskutantInnen für eine europäische Speicher-Lösung aus, die dringend benötigt werde. Eindimensionale Abhängigkeiten – egal ob IT, Energie, Pharmazieprodukte oder Nahrungsmittel machen Europa erpressbar und müssen aktiv bekämpft werden.

Wilhelm Molterer, Schirmherr der Veranstaltung und Vorstandsmitglied im Ökosozialen Forum, fasste abschließend die fünf wichtigsten Erkenntnisse aus der Debatte zusammen. Es gehe dabei nicht um Gleichheit, sondern um gleichwertige Chance für städtische und ländliche Regionen in Europa.

  1. Um die ländlichen Regionen funktionsfähige zu erhalten, brauche es Infrastrukturmaßnahmen. Das betrifft nicht nur technische Verbesserungen, sondern auch z. B. den Bau von Kindergärten.
  2. Resilienz ist in den vier Dimensionen: soziale, ökologische, ökonomische und finanzielle Resilienz zu verstehen und darf nicht eindimensional ausgelegt werden.
  3. Über alle EU-Programme wie auch nationalen Programme braucht es eine kohärente und umfassende Vorgehensweise, die von der Gemeinsamen Agrarpolitik über die Kohärenzpolitik bis zu den Klimawandelanpassungsmaßnahmen reicht.
  4. Bei der Diskussion um Wertschöpfungsketten müsse künftig nicht nur Qualität und Quantität, sondern auch die Leistbarkeit im Zentrum stehen.
  5. Statt von strategischer Autonomie sollten wir von strategischer Verantwortung sprechen, weil es um die Kooperation und Zusammenarbeit aller Partner – innerhalb und außerhalb der Europäischen Union – gehen muss.

PROGRAMM

17:00 Welcome, Jacek Pijanowski, President, Ecosocial Forum Poland, Krakow & Hans Mayrhofer, General Secretary, Ecosocial Forum Austria & Europe, Vienna,  Huberta Heinzel, European Parliament Liaison Office in Austria, Leszek Książek, Dean, Faculty of Environmental Engineering and Land Surveying of the University of Agriculture in Krakow

17:10 Opening, Wilhelm Molterer, Member of the Board, Ecosocial Forum Austria & Europe, Vienna

17:20 Rural Regions Contributing to Strategic Autonomy and European Resilience (video message), Elisa Ferreira, Commissioner for Cohesion and Reforms, European Commission, Brussels

17:35 How can European rural areas collaborate to strengthen strategic autonomy?, Martin Fritsch, Subject Matter Expert, dss+, Zurich (Präsentation steht zum Download zur Verfügung)

17:50 Impacts of Climate Change for European rural areas as production sites, as retention areas …, Andrzej Wałęga, Chair of Sanitary Engineering and Water Economies, Faculty of Environmental Engineering and Land Surveying at the University of Agriculture in Krakow

18:05 Discussion: How can European rural regions help member states and the EU to emerge stronger and more resilient from the current crises?

Dacian Cioloș , MEP, Member – Committee on Agriculture and Rural Development, Brussel

Lukas Mandl, MEP, Vice-Chair – Subcommittee on Security and Defence, Brussels

Andreas Jirkowsky, Head of Division Commodity trading, RWA – Raiffeisen Ware Austria Aktiengesellschaft, Korneuburg

Marianne Penker, Professor for Rural Sociology and Rural Development, Deputy Head, Institute for Sustainable Economic Development University of Natural Resources and Life Sciences, Vienna

18:50 Synopsis & Closing remarks, Wilhelm Molterer

19:00 Ausklang bei Wein und kleinem Imbiss

Aufzeichnung