Eine wachsende Stadt und das Bekenntnis zum Bodenschutz gehen nicht immer leicht zu zusammen. Über die Herausforderungen in der Flächenwidmung, den Standortwettbewerb zwischen Gemeinden und das Verständnis der Bevölkerung für beschränkende Maßnahmen sprach denk.stoff mit dem Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl.
Raumplanung steht vor dem Problem, einerseits wertvollen Boden erhalten und gleichzeitig einen attraktiven Wohn- und Wirtschaftsraum schaffen zu wollen. Wie gehen Sie in Grau mit diesem Spannungsfeld um?
Siegfried Nagl: Diese Fragestellung ist bei uns aktuell wie nie zuvor. Graz und die Region Graz-Umgebung ist der am stärksten wachsende Raum Österreichs. Unsere Einwohnerzahlen steigen jedes Jahr um 1,5 Prozent, das sind über 3.000 Menschen Jahr für Jahr. Dennoch ist unsere Strategie: Der Siedlungsraum soll flächenmäßig praktisch überhaupt nicht wachsen. Das hat uns im Baukulturreport der Republik Österreich eine lobende Erwähnung eingebracht. Und diese siedlungspolitische Strategie wird auch von sämtlichen im Gemeinderat vertretenen Fraktionen getragen.
Seit einigen Wochen befindet sich der 4. Grazer Flächenwidmungsplan in öffentlicher Auflage, darin wird weniger als 0,4 Prozent als zusätzliches Bauland ausgewiesen. Wir haben geeignete Möglichkeiten gefunden, wo das Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum stattfinden kann, ohne dass wir flächenmäßig wachsen.
Gleichzeitig gibt es immer den Wunsch, dennoch bauen zu wollen. Sind Sie mit Forderungen konfrontiert, doch Widmungsänderungen vorzunehmen?
»Verantwortung für die Zukunft bedeutet, dass man nicht jeden individuellen Wunsch erfüllen kann.«
Verstehen das die Menschen, deren Wünsche nicht berücksichtigt werden?
Siegfried Nagl: Die Mehrheit versteht es, aber der Einzelne wird mit der Entscheidung nicht immer glücklich sein. Man muss es immer wieder erklären. Aber das hilft demjenigen, der einen konkreten Bauwunsch hat, ja nicht. Da steht ein Grundeigentümer und verweist auf die nächste Generation: „Mein Sohn oder meine Tochter, es ist doch bitte nur ein Haus, darauf kann es wohl nicht ankommen. Auf der anderen Straßenseite, wo schon die Nachbargemeinde ist, geht das ja auch. Warum geht das bei uns nicht?“ Es wäre vermessen zu sagen, dass es alle Betroffenen gut akzeptieren können.
Ist das Wettbewerbsnachteil für die Stadt Graz?
Siegfried Nagl: Kurzfristig sicher. Wir sind aber davon überzeugt, dass es mittel- und langfristig ein Vorteil ist. Wir schützen unseren Grüngürtel viel mehr als wir das aufgrund der Vorgaben des Landes und der Regionalplanung müssten. Das trägt sehr stark zur Lebensqualität,zur Luftgüte, zur Naherholung und zum Stadtklima bei, weil es Aufheizung verhindert und Frischluftproduktion unterstützt.
Wenn es sich um Bauvorhaben größerer Dimension handelt. Gehen mit dieser Strategie dann nicht auch Arbeitsplätze verloren?
Siegfried Nagl: Wir haben eine sehr vorausschauende Raumplanung und daher große zusammenhängende Industrie- und Gewerbeareale auf Jahrzehnte vorrätig. Es wird nicht, nur weil das der Wunsch eines Betriebes ist, neues Bauland gewidmet. Wir haben genug Flächen, die wir anbieten können und die unterschiedliche Erfordernisse bedienen.
Selbstverständlich stehen auch wir in einem Standortwettbewerb. So liegen beispielsweise der Grazer Flughafen und das Klärwerk in Umlandgemeinden, ebenso die beiden südlichen Autobahnanbindungen . Auch dort gibt es für Gewerbe und Industrie gut geeignete und attraktive Standorte. Daher geschieht auch sehr viel Investition und Bautätigkeit im Umland. Wir sagen auch ganz offen,dass die Stadt Graz sicher nicht mehr für jeden Industriebetrieb der richtige Standort ist. Es gibt Nutzungen, die außerhalb von Bevölkerungskonzentrationen besser untergebracht sind als in der Stadt.
Die Pendlerverflechtungen sind inzwischen in beide Richtungen sehr stark. Es ist nicht nur so, dass 120.000 Menschen jeden Tag nach Graz kommen, um hier zu arbeiten. Es fährt auch ein erheblicher Anteil von Grazerinnen und Grazern in die Umlandgemeinden, weil dort große und attraktive Arbeitgeber sind. Angesichts der Raumplanungs- und Verkehrsverflechtung muss man ohnehin mehr gemeinsam denken und sich weniger als Konkurrenz verstehen. Anders kann mit den Herausforderungen nicht umgegangen werden. In unserer Region hat sich die Zusammenarbeit in den letzten Jahren durchaus positiv entwickelt.
Die Stadt Graz ist nicht nur Grundeigentümer Nachbargemeinden, in denen Infrastruktureinrichtungen liegen. Teilweise brauchen wir auch die Hilfe von Nachbargemeinden, um Retentionsbecken oder andere Hochwasserschutzmaßnahmen, die der Stadt zugute kommen, unterzubringen. Man kann nicht mehr ausschließlich innerhalb der eigenen Gemeindegrenzen denken – auch nicht bei der Gewerbe- und Industrieansiedelung.
Sind Leerstände, also leerstehende Wohnungen oder nicht genutzte Betriebs- oder Gewerbeflächen, in Graz ein Problem?
Siegfried Nagl: Wir haben uns mit dem Thema Leerstände im Rahmen eines Pilotprojektes beschäftigt. Mit viel Aufwand wurde versucht, aus den Abrechnungen für Gas, Strom und Wasser herauszufinden, welche Wohnungen und Geschäftslokale tatsächlich leer stehen. Das Ergebnis: Es gibt weniger Leerstände als man manchmal hört oder vermuten würde. Wir haben allerdings diese Aktivitäten nicht stadtgebietsweit ausgerollt, weil wir tatsächlich sehr wenige Handlungs- oder Sanktionsmöglichkeiten haben.
Wir hören immer wieder von Bürgern, dass in den großen neugebauten Wohnanlagen aufgrund der Preisentwicklung manches leer steht. Auch über Jahre entspricht die Wohnbauleistung genau dem Bedarf. Leerstand in Neubauten wird offenbar durch bessere Ausnutzung bestehender Wohnbauten kompensiert. Tatsächlich bauen wir in Graz so viele Wohnungen wie wir aufgrund der Bevölkerungsentwicklung brauchen.
Bei den Gewerbe- und Handelsstandorten geht es uns wie allen in Europa. Der Handel konzentriert sich auf die absolute A-Lage (Innenstadtlagen und Fußgängerzonen) und schon zwei Straßenzüge weiter gibt es wenig Fußgängerfrequenz und immer wieder leerstehende Ladenlokale. Das Citymanagement hat das zur Kenntnis genommen und strebt für manche Straßen, die vor Jahrzehnten noch funktionierende Einkaufsstraßen mit kleinen Ladenlokalen waren, inzwischen ein anderes Leitbild an. Wir bemühen uns dort, Creative Industries anzusiedeln, Dienstleister, Start-up-Unternehmen oder Architekturbüros. Klassische Handelsbetriebe funktionieren dort einfach nicht mehr. Das haben wir zur Kenntnis genommen und probieren stattdessen etwas anderes.
Gibt es in Graz Überlegungen, Bauland wieder rückzuwidmen?
Siegfried Nagl: Rückwidmungen finden kaum statt. Da muss man die Dinge in Relation setzen. Die Stadt Graz ist keine Gemeinde, die einen Baulandüberhang hat – da dürften wir in der Steiermark die einzigen sein. Es gibt ja die Vorgabe, dass eine Gemeinde soviel Bauland im Flächenwidmungsplan neu ausweisen kann, wie erwartete wird, in den nächsten 15 Jahren zu brauchen. Die meisten Gemeinden haben das Doppelte, Dreifache oder noch mehr. Wir haben nicht einmal diesen Bedarf, also verhältnismäßig wenig unbebautes Bauland. Es gibt daher keinen nennenswerten Bedarf rückzuwidmen.
Rückwidmungen führen wir in zwei Fällen durch: Erstens, wenn Flächen so stark von Hochwasserereignissen betroffen sind, dass sie nicht mehr mit vernünftigen Aufwand sanierbar wären. Dann ist nach heutigem Wissensstand tatsächlich keine Baulandeignung mehr gegeben, auch wenn die Flächen vor mehreren Jahrzehnten als Bauland ausgewiesen wurden. So etwas wird rückgewidmet. Der zweite Fall ist, wenn die Stadt Graz im Rahmen ihrer Grünlandoffensive Baulandflächen für Sport- oder Parkanlagen aufkauft. Grundstücke im Besitz der Stadt werden dann rückgewidmet, um das Gebiet dauerhaft als Grünraum abzusichern.
Müssen Flächen im Eigentum der Stadt sein, um rückgewidmet zu werden?
Siegfried Nagl: Für Hochwasser wird auch im Privatbesitz rückgewidmet
Gibt es Verständnis dafür?
Siegfried Nagl: Es gibt eine klare Rechtslage. Das Steiermärkische Raumordnungsgesetz, das seit 2010 in Kraft ist, legt fest, dass man in solchen Fällen entschädigungslos rückzuwidmen hat. Da gibt es nichts zu rütteln.